Mittwoch, 14. November 2018, 20.30 Uhr
Robert Estermann | Spectacular Interferometry (detail) | Archive Kabinett, Berlin 2018 |
Die Vielzahl der von Robert Estermann eingesetzten künstlerischen Techniken verdankt sich seinem intensiven Interesse an der Neuentwicklung experimenteller Arbeitsweisen, durch die er zwischen körperlicher Erfahrung, realen und imaginären Räumen zu vermitteln sucht. Sein bildnerischer Grundimpuls liegt von Beginn an im Performativen, das seither neue Kommunikationswege – vor allem in der Zeichnung – erschlossen und sich dadurch in erheblichem Masse ausdifferenziert hat. Gerade im Zeichnerischen hat sich Estermann in den vergangenen Jahren ein reiches Ausdrucksspektrum erschlossen: Konnte er bereits mit seinen frühen, meist kleinformatigen Bleistiftzeichnungen erhebliche Wirkungsmächtigkeit schaffen, so arbeitet er inzwischen bei seinen Zeichnungen mit schwarzen Faserstiftlinien an etwas unerhört Gewagtem, riskiert mit jedem Blatt etwas, das im heutzutage eigentlich massiv besetzten Gebiet der freien künstlerischen Zeichnung kaum mehr möglich erscheint: Man hat es vor den oft seriell angelegten Blättern nie bequem, sie sind direkt, und sie zeigen unseren durch allzu viel abgestandene Virtuosität verzogenen Augen, dass der Künstler mit voller Überzeugung das Neue sucht. Sie sind anspruchsvoll, insofern sie kompositorische, linguistische, morphologische und topologische Sünden, Überschreitungen, Volten und Sprünge riskieren, die herkömmliche Vorstellungen, etwa vom „Gelungensein“ einer Zeichnung oder eines Bildes, unterlaufen. Das vermeintlich Naive oder Triviale entfaltet sich bereits bei minimalem Eigeneinsatz von Vorstellungskraft in reale und vorgestellte Räume hinein, führt subtile Unterhandlungen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Zukunftserwartungen, zwischen subkulturellen, erkenntniskritischen und identitätsbezogenen Bildbegriffen. Es verzeichnet die Bruchstellen zwischen den verschiedenen Medien und Techniken deutlich und erkennt sich in der radikalen Ausübung von Freiheit als eigentlicher künstlerischer Tätigkeit wieder.
Estermann Zeichnen sucht sich immer wieder neue Gründe – im buchstäblichen und im übertragenen Sinn. So nutzt zum Beispiel seine zeichnerische Installation „Reflections on Windowpanes in a Cartoon with Ourselves as Evolving Fictions“ (2005-2015) die Oberfläche der Fensterscheiben des betreffenden Ausstellungsraums. Der Titel beschreibt, was man (vielleicht nicht auf den ersten Blick) sieht: Das aus parallelen Faserstiftstrichen gebildete, in Comics und Karikaturen konventionalisierte Zeichen für spiegelnde oder halbtransparente Glasflächen, das hier auf realen Fenstern angebracht wurde. Dann aber bezieht sich der Titel auch auf eine andere Ebene, die emphatisch in den Raum der Betrachter/innen ausgreift und diese mit der vereinnahmenden Wortwahl des „uns“ („ourselves als evolving fictions“) in ein utopisch-gesamtgesellschaftliches Experimentieren einbezieht, bei dem die Identitäten der Einzelnen als sich entfaltende Entwürfe verstanden werden. Die Reflektionslinien auf den Fensterscheiben sind materiell gewordene Superzeichen, die nicht nur die unterschiedlichen Realitätsstufen von Innen und Außen eines Raums erlebbar machen, denn sie zeigen mit Schlichtheit und Eleganz, wie einfach platzierte Striche dem Bewusstsein aus dem konkreten Erleben heraus Zugang zu anderen, neuen, zukünftigen Realitäten verschaffen.
Das Gestische, vorwärts Tastende versteht Estermann nicht nur im Zeichnerischen als performativen Akt auf, der auf bereits definierte (Kunst-)Räume ausgreift – auch in anderen Medientechniken versucht er das materielle, körperliche Substrat des Erinnerns, des Erkennens und Vorstellens mit ins Bild zu setzen und Betrachter/innen verfügbar zu machen. In seinem seit einigen Jahren entwickelten Web-Projekt riding.vision erforscht er mit filmischen und fotografischen Mitteln die affektiven Potenziale der Immersion in eine reale Vorstellungswelt, in der sich das Reiten zu Pferd an endlosen Stränden von der kulturell etablierten Metapher zur ernst gemeinten Zukunftsvision entwickelt, dabei aber queere und subkulturelle Konnotationen gleichberechtigt neben andere Erkenntnisformen setzt.
Text: Clemens Krümmel